Künstlerdörfer im Hinterland – Kunst im Rhythmus der Natur

Künstlerdörfer im Hinterland – Kunst im Rhythmus der Natur

Apricale, Bussana Vecchia & Valloria

Wer Ligurien kennt, weiß: Die Küste verführt mit türkisfarbenem Meer, kleinen Buchten und pastellfarbenen Häusern. Aber das wahre Herz schlägt oft im Hinterland – dort, wo uralte Steindörfer an Hügelkuppen kleben und sich Geschichten wie Ranken an den Mauern entlangziehen. Drei Orte stechen besonders hervor: Apricale, Bussana Vecchia und Valloria. Hier verschmelzen Historie und Kreativität zu einer Atmosphäre, die den Besucher lange nicht loslässt.

Apricale – das „Märchendorf“ auf dem Hügel

Der Name Apricale stammt vom lateinischen „apricus“ – „sonnig gelegen“. Und tatsächlich: Das Dorf thront 273 Meter über dem Meeresspiegel auf einem Felsen, sodass die Morgensonne es schon berührt, während die Täler noch schlafen, wie ein Adlernest auf einem Felssporn, umgeben von terrassierten Olivenhainen.
Erste Erwähnungen finden sich bereits im 11. Jahrhundert. Die engen Gassen winden sich spiralförmig um die Pfarrkirche San Andrea und das Schloss der Lazzarini-Clavesana, einst Sitz der Markgrafen, die hier über Land und Leute wachten. Die mittelalterlichen Gassen sind so schmal, dass sie manchmal nur für eine Person Platz bieten – perfekt, um langsam zu schlendern und Details zu entdecken.

Eine Geschichte, die die Einheimischen gern erzählen, beginnt unscheinbar: Im Mittelalter wollte ein Händler aus Genua die Seidenraupenzucht ins Dorf bringen. Um die kostbaren Raupen am Zoll vorbeizuschmuggeln, versteckte er sie – so die Legende – in einer hölzernen Madonnenfigur, die bei einer Prozession durch die engen Gassen ins Dorf getragen wurde. Offiziell war es also eine religiöse Feier, inoffiziell ein Schmuggel mit feinstem Material für die Seidenproduktion. Aber durchgesetzt hat sich die Seidenproduktion in Apricale am Ende doch nicht.

Heute ist Apricale offiziell Mitglied der Vereinigung „I Borghi più belli d’Italia“ – der schönsten Dörfer Italiens. Jedes Jahr im Sommer wird das ganze Dorf zur Bühne des renommierten Theaterfestivals des Teatro della Tosse aus Genua. Schauspieler, Musiker und Tänzer verwandeln das ganze Dorf in eine märchenhafte Kulisse, in der sogar die Häuser mitspielen und die Zuschauer von Szene zu Szene durch den Ort spazieren. Sollten Sie im August die großen Plakate sehen, Teatro della Tosse ad Apricale, dann sollten Sie sich dieses Spektakel nicht entgehen lassen! 

 

Bussana Vecchia – das Dorf, das zweimal geboren wurde

Bussana Vecchia ist ein Dorf mit einer außergewöhnlichen Geschichte. Am 23. Februar 1887 erschütterte ein verheerendes Erdbeben die ligurische Küste. Fast alle Gebäude stürzten ein, viele Bewohner verloren ihr Leben. Die Überlebenden gründeten weiter unten im Tal Bussana Nuova, und das alte Dorf blieb jahrzehntelang eine Geisterstadt – nur der Wind und die Natur gingen hier noch ein und aus.

In den 1960er-Jahren entdeckten Künstler aus aller Welt diese vergessene Kulisse. Einer der ersten war der Maler Vanni Giuffré, der – so erzählt man sich – ein verrostetes Türschloss knackte und kurzerhand in eine Ruine einzog. Tatsächlich steckt dahinter der alte Rechtsgrundsatz der usucapione – nur, dass er in Wirklichkeit bei Immobilien meist 20 Jahre ununterbrochenen, friedlichen und öffentlichen Besitz erfordert, und oft noch einen langen Rechtsweg nach sich zieht. 

Ob Gesetzeslücke oder einfach geduldete Freiheit – in Bussana Vecchia setzte sich die kreative Anarchie durch. So begann eine Ära, in der Bussana Vecchia zu einer freien Künstlerkolonie wurde. Bald waren die Gassen ein Labyrinth aus Ateliers, Werkstätten und offenen Türen. Jede Mauer trägt Spuren der Vergangenheit und neue Schichten aus Farbe, Keramik und Fantasie.

Bis heute prägt diese kreative Anarchie den Ort. Keramiker arbeiten unter freiem Himmel, Maler öffnen ihre Ateliers für Besucher, Musiker proben in der alten Kirche ohne Dach – das Echo mischt sich mit dem Zirpen der Zikaden. Bussana ist kein Museum, sondern ein lebendiges Kunstwerk im stetigen Wandel. Wer heute hierherkommt, kann den Künstlern bei der Arbeit zusehen, durch Galerien schlendern – und vielleicht ein Stück dieser ungezähmten Geschichte mit nach Hause nehmen.

Valloria – das Dorf der sprechenden Türen

Valloria ist klein – kaum 40 Einwohner – und doch weltberühmt. Der Grund: Über 150 bemalte Türen, jede ein eigenes Kunstwerk. Begonnen hat alles Ende der 1990er-Jahre mit dem Sommerfest „A Valloria fai baldoria“ („In Valloria wird gefeiert“). Künstler aus Italien und der ganzen Welt kamen, um alte Holztüren zu bemalen – und weil hier nichts unter Glas kommt, bleiben die Kunstwerke Teil des Alltags.

Seitdem pilgern jeden Sommer Maler aus ganz Italien und darüber hinaus ins Arroscia-Tal, um mit  Pinsel und Fantasie Türen zu neuem Leben zu erwecken. Heute sind es über 150 – jede mit einer eigenen Geschichte. Manche zeigen Szenen aus dem Dorfleben: spielende Kinder, alte Frauen beim Olivenpflücken, Männer mit ihren Maultieren. Andere sind surreal, witzig oder politisch – wie die berühmte Tür mit einer Katze. Das Motiv ist so täuschend echt, dass Besucher oft kurz innehalten, manche locken sogar leise „micio, micio“, bevor sie merken, dass die Katze nicht zurückkommen wird. Die Dorfbewohner sehen das mit Humor – angeblich wurde schon mal eine Kamera aufgestellt, um die überraschten Gesichter festzuhalten.

Eine charmante Besonderheit: Die Türen werden nicht abgenommen oder geschützt. Sie bleiben im Alltag in Gebrauch.  In Valloria gilt: Die Türen sind nicht nur Eingänge, sondern Erzählungen. Manche öffnen sich zu Küchen, aus denen Pasta-Geruch strömt, andere zu Lagerräumen mit Weinballons. Wer genau  hinhört, meint sogar, dass die Türen selbst Geschichten flüstern. 

Valloria ist auch berühmt für sein charmantes Dorffest, das von den rund 40 Bewohnern mit viel Herzblut selbst organisiert wird. Unter dem Motto „A Valloria fai baldoria“ verwandelt sich das kleine Bergdorf gleich zweimal im Jahr – am ersten Juli- und am ersten Augustwochenende – in eine große Freiluftbühne. Zwischen duftenden Olivenhainen wird dann geschlemmt, getanzt und gelacht: Die Gäste genießen hausgemachte ligurische Spezialitäten, Live-Musik und eine Atmosphäre, die so herzlich ist, als wäre man Teil der Dorfgemeinschaft. Eine unbedingte Empfehlung um Ligurien hautnah zu erleben! 


Diese drei Dörfer zeigen, wie eng Kunst und Leben in Ligurien verwoben sind. Apricale – ein Sonnenplatz voller Theater und Geschichte, Bussana Vecchia – eine Wiedergeburt aus Trümmern, Valloria – ein kleines Dorf, das seine Geschichten auf Türen schreibt. Wer hierherkommt, reist nicht nur geografisch, sondern auch durch Epochen, Stile und Gedankenwelten. Und vielleicht nimmt man am Ende mehr mit als nur Fotos: eine neue Sicht auf Schönheit – unperfekt, lebendig und zeitlos.